Prekär oder perfide?

Gastbeitrag von Heike Riemann (KDA)

Die Corona-Krise hat die Situation in den bundesdeutschen Schlachthöfen erneut zum Thema gemacht. Heike Riemann, Referentin des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt in der Nordkirche, berichtet in einem Gastbeitrag, welche Rolle dort prekäre Beschäftigungsverhältnisse spielen und wie die Politik aktuell darauf reagiert. Die Branche steht nicht allein für ausbeuterische Arbeitsbedingungen.

Von Heike Riemann

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse kommen oft unspektakulär daher, sie brauchen das Element des Rechtsbruchs eigentlich nicht. Es reichen unzureichend existenzsichernde Einkommen oder sich ständig wiederholende Befristungen. Prekäre Verhältnisse plus Rechtsbruch könnten auch schlicht perfide heißen. Aktuell beschäftigt Politik und Gesellschaft die Situation in der Fleischindustrie.

Ab dem 1. Januar 2021 gelten neue gesetzliche Regelungen für die Fleischindustrie. Der Einsatz von Werkverträgen in den Kernbereichen ist dann laut Gesetzentwurf verboten. Ab dem kommenden April soll es auch keinen Einsatz von Leiharbeitskräften mehr geben. So steht es im Entwurf für das Arbeitsschutzkontrollgesetz, das die erste Lesung des Bundestages bereits passiert hat. Die Bundesregierung plante so, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Beschäftigten in der Fleischindustrie zu verbessern. Auch veränderte Regelungen zur Unterbringung und zur Kontrolle durch die Arbeitsschutzbehörden finden sich in dem Entwurf. Die massiven Corona-Ausbrüche in der Branche und die damit für alle erkennbaren Missstände, machten politisches Handeln unumgänglich und zunächst sah es tatsächlich so aus, als ob durch die Verabschiedung dieses Gesetzes sich wesentliches ändern könnte.

Die Lobbyarbeit der Fleischindustrie setzt weiter auf Leiharbeit

Doch nun muss die Regierungskoalition aus SPD und CDU/CSU erneut intern beraten und so verschwand die vorgesehene Verabschiedung von der Tagesordnung des Bundestages für den 28. Oktober. Abgeordneten der CDU/CSU sind Bedenken zum Beispiel gegen das Verbot der Leiharbeit für diese Branche gekommen. Böse Zungen halten dies für einen Erfolg der Lobbyarbeit der Fleischindustrie. Denn auf der „Zielgeraden“ hatten Vertreterinnen und Vertreter der Fleischbranche sich besonders stark für die Möglichkeit der Leiharbeit eingesetzt.

Dabei schien das Ende von Werkverträgen für die Kernbereiche der Fleischindustrie bereits so gut wie beschlossen. Große Unternehmen hatten begonnen, Mitarbeitende direkt zu übernehmen. Doch nach Bekanntwerden, dass das Verbot von Leiharbeit aus dem Arbeitsschutzkontrollgesetz herausfallen könnte, erhalten bisherige Werkvertragsbeschäftigte nun vor allen Angebote ihrer bisherigen Werkvertragsunternehmen: nämlich, sie für Leiharbeit zu übernehmen. Damit könnte sich bewahrheiten, was Gewerkschaften und Mitarbeitende von Beratungsstellen befürchten: Groß ist dort die Sorge, dass die gängige Praxis des Drangsalierens, des Ausnutzens fehlender Sprach- und Rechtskenntnisse bei den oftmals aus Osteuropa stammenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und der Ausbeutung erhalten bleibt. Denn in der Regel verfügen die Werkvertragsunternehmen auch über eine Lizenz als Verleiher.

Zu deutlich ist zudem das Misstrauen und die Erinnerung daran, dass es den Fleischkonzernen in der Vergangenheit immer wieder gelungen ist, keine Verantwortung für die auf den Schlachthöfen Tätigen zu übernehmen. Zulange wurde die eigentliche Arbeit eines Schlachthofes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Betriebszugehörigkeit geleistet und die rechtlichen Bemühungen erwiesen sich als zu schwach.

Bisheriges Gesetz verhinderte Missstände in der Fleischindustrie nicht

So schuf die Fleischwirtschaft 2014 einen Verhaltenskodex ohne Konsequenzen bei Nichteinhaltung und 2015 die freiwillige Selbstverpflichtung mit selbstgeschriebenen Fortschrittsberichten für die Bundesregierung. 2017 konterte die Politik mit einem Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der Fleischwirtschaft. Das Gesetz konnte die Missstände nicht eindämmen, dafür aber hielt es fest, dass Arbeitsmaterialien gebrauchsfähig zu sein haben. Wie peinlich für den Adressaten.

Es kann aber als Dokument dafür gelten, dass natürlich auch vor Corona Politik und Gesellschaft über die schwierigen Arbeitsverhältnisse Bescheid wussten. Initiativen, Gewerkschaften und Menschen von vor Ort mahnen seit Jahren.

Kaum jemand wird widersprechen: Die Arbeit der Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischindustrie ist/war oftmals prekär. „Prekär“ steht dabei nicht nur als Synonym für „schwierig“ oder „problematisch“, sondern betont deutlich die anhaltende Verunsicherung, der diese Menschen im bisherigen System ausgesetzt waren.

Dazu gehört die vollkommene Abhängigkeit vom Werksvertragsunternehmen als Arbeitgeber, wenn dieser auch als Vermieter fungiert, den Transport zur Arbeit übernimmt, Menschen zum Arzt begleitet oder darüber entscheidet, ob ein Arztbesuch angezeigt ist. Kurz gesagt: „seine“ Angestellten stark unter Kontrolle hält und über weitreichende Mittel verfügt, vermeintliche Verfehlungen zu ahnden. Liegen die Unterkünfte auch noch außerhalb der Stadt, ist die Arbeit in Schichten zu erledigen, dann werden die Werkvertragstätigen zu „Unsichtbaren“ im Stadtbild.

Ein Ankommen am Ort, gar gesellschaftliche Teilhabe, findet nicht statt bzw. wird vom Werkvertragsunternehmen aktiv verhindert. So manches davon lässt sich als „Verleiher“ fortführen. Der evangelische Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt und verschiedene Kirchliche Dienste in der Arbeitswelt (KDA) in den Landeskirchen appellieren deshalb an die Bundesregierung, das Arbeitsschutzkontrollgesetz möglichst bald wieder auf die Tagesordnung zu setzen und es als unveränderten Entwurf zu verabschieden: Denn das Gesetz verzögern, heißt das Leid der Beschäftigten verlängern!

Wunsch der Beschäftigten nach einer Perspektive

Dabei gilt es auch zu berücksichtigen: Anders als immer wieder angeführt, gibt es unter den ausländischen Werkvertragsbeschäftigten etliche, die nach Deutschland gekommen sind, um sich hier eine Lebensperspektive aufzubauen. Und auch, wer „nur zum Arbeiten hier ist“, will eine Perspektive, nämlich eine Perspektive in der Heimat. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhindern genau dies, die Möglichkeit sich eine Lebensperspektive zu erarbeiten.

Wird das neue Gesetz in einer gegenüber dem Entwurf unveränderten Fassung denn nun helfen, prekäre Arbeitsverhältnisse zu verhindern? Die Antwort darauf ist trotz Befürwortung ein Jein.

Zum einem: Das Verbot der Werkverträge in den Kernbereichen der Fleischindustrie (Schlachten, Zerlegen, Verarbeiten) macht vieles einfacher, eindeutiger und damit weniger verunsichernd: für den Einzelnen oder die Einzelne, für Kolleginnen und Kollegen, für Behörden und wo vorhanden für den Betriebsrat, der dann für alle Beschäftigten zuständig ist.  Und es gibt die Erwartung, nun werden die Fleischbetriebe auch ihrer sozialen Verantwortung gerechter werden, bemühen sich um Sprachkurse und Integration und sei es auch nur, weil es ab 2021 an ihnen liegt, genügend Personal zu haben.

Vieles bleibt erlaubt – nicht nur in der Fleischindustrie

Auf der anderen Seite: Das Verbot gilt nur für die Kernbereiche der Fleischindustrie und ist damit nicht das Ende von Werkverträgen auf Schlachthöfen oder anderswo. Ein Beispiel: Die Reinigung des Schlachtbetriebes gehört nicht zum Kernbereich und kann weiter per Werkvertrag erledigt werden. Werkverträge und vergleichbare Situationen finden sich außerdem auf dem Bau, bei den Werften, in der Logistik und anderswo. Sie bleiben erlaubt.

Auch Saisonbeschäftigten und Erntehelfern ergeht es oftmals schlecht. Auch dies machte Corona offenbar.

Vergleichbare Muster und Taktiken in unterschiedlichen Branchen

Mindestlöhne pro Stunde mutieren da schon mal zum Akkordlohn mit Bezahlung pro Einheit, die Unterbringung erfolgt recht beengt und gegebenenfalls zu überhöhten Preisen. Selbst das transportable Toilettenhäuschen am Feldrand ließ sich ein findiger Arbeitgeber von den Erntehelferinnen und Erntehelfern refinanzieren – 1 Euro pro Gang – erfuhren Mitarbeiter einer Beratungsstelle für mobile Arbeitnehmende neulich.

Klingt nach ähnlichen Verhältnissen – nur in anderem Maßstab? Das Schlimme ist, wer anfängt hinzusehen und hinzuhören, entdeckt vergleichbare Muster und Taktiken in ganz unterschiedlichen Branchen und über die Welt verteilt, „prekär“ gibt es überall.

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Zur Autorin
Heike Riemann ist Referentin des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) der Nordkirche und dort Regionsleitung Hamburg. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören prekäre Arbeitsbedingungen. Für den KDA auf Bundesebene ist sie im Ausschuss „Erwerbslosigkeit, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik“ aktiv.

19.11.2020