Karl Marx und die protestantische Arbeitsethik

„Das Arbeitsverständnis von Karl Marx ist für die evangelische Sozialethik bis heute inspirierend und herausfordernd, es gibt bedeutende Gemeinsamkeiten wie beträchtliche Differenzen“, erklärt Professor Dr. Traugott Jähnichen. Der evangelische Wirtschafts- und Sozialethiker erläutert in einem Beitrag für das Portal kirche-und-arbeitswelt.de seine Sicht auf die beiden Arbeitsbegriffe:

Von Professor Dr. Traugott Jähnichen

Marx ist ohne die profilierte Weiterführung der Philosophie Georg W. F. Hegels nicht angemessen zu verstehen. Dies gilt in besonderer Weise für sein Arbeitsverständnis. Hegel hat, im Unterschied zur oft quasi-religiösen Verklärung der Arbeit durch viele seiner Zeitgenossen, die menschliche Arbeit in der unauflöslichen Dialektik von Freiheit und Entfremdung interpretiert.

Nach Hegel ist die Arbeit neben der Sprache das wichtigste Konstitutionsprinzip des Menschseins. Durch die Arbeit erwirbt der Mensch seine Freiheit, denn im Prozess der Arbeit entwickeln sich die theoretische und die praktische Bildung des Menschen, der auf diese Weise immer mehr Herr über sein eigenes Tun wird.[1] Durch die fortgesetzte Teilung der Arbeit wird das Arbeiten für den Einzelnen einfacher, er wird in der immer abstrakter werdenden Arbeit geschickter sowie „die Menge seiner Produktionen größer.“[2]

Traugott Jähnichen

Marx‘ Begriff der Arbeit knüpft an Hegel an

Die zunehmende Mechanisierung der Arbeit wird von Hegel mit der Aussicht auf eine Ersetzung schematischer Arbeit durch Maschinen legitimiert, dennoch nimmt Hegel sehr genau die Entfremdung in der mechanisierten Arbeit wahr. Die abstumpfenden und die Geschicklichkeit einschränkenden Formen von Arbeit werden von ihm mit dem Begriff der Entfremdung charakterisiert. Obwohl Hegel die Ambivalenzen der modernen Arbeit erkennt, legitimiert er letztlich diese Form von Arbeit, da dies der Weg der geschichtlichen Realisierung des Prinzips der Freiheit ist.

Marx knüpft an diese Überlegungen Hegels an, wobei er die Bedeutung der Arbeit für die Menschwerdung des Menschen noch stärker betont. Nach Marx macht Arbeit das Wesen des Menschen aus, der sich durch die selbsttätige Arbeit „vergegenständlicht“, „entäußert“ und „selbst verwirklicht.“[3] In diesem Sinn definiert Marx die Weltgeschichte „als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit“[4] und richtet diesen Gedanken kritisch gegen das christliche Menschenbild: „Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt.“[5]

Der Gegensatz von Bürgertum und Proletariat

Sozialgeschichtlich beschreibt Marx – hier liegt eine deutliche Zuspitzung im Vergleich zu Hegel sowie zu den Nationsökonomen seiner Zeit – konkret die kapitalistische Lohnarbeit als entfremdete Arbeit: Die Situation der arbeitenden Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft wird durch den Gegensatz von Bürgertum und Proletariat gekennzeichnet.

Das Bürgertum hat die Klasse der modernen Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, die Proletarier, geschaffen: Als Arbeiterin und Arbeiter können sie nur leben, soweit sie ihr Arbeitsvermögen „stückweise verkaufen müssen, (sie) sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel.“[6]

Die Bedingungen dieser Arbeit sind zutiefst von Entfremdung bestimmt: „Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine … Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisieklasse, … sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst.“[7] Entfremdung meint bei Marx somit eine Entfremdung des Menschen im Verhältnis zum Produkt seiner Arbeit, zum Akt der Produktion, zu sich selbst als Gattungswesen und im Verhältnis des Menschen dem anderen Menschen gegenüber.[8]

„Umwälzung der Produktionsverhältnisse“ als Voraussetzung freier Entwicklung

Dagegen setzt Marx die Utopie einer befreiten Arbeit „in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe.“[9] Voraussetzung hierfür ist die „Umwälzung der ganzen Produktionsverhältnisse“, wobei der Besitz an Produktionsmitteln in die „Hände(n) der assoziierten Individuen“[10] zu überführen ist. Es gilt, anstelle der kapitalistischen Gesellschaft eine Assoziation zu schaffen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[11]

Die Überwindung des Kapitalismus ist somit die Voraussetzung der Überwindung jeder Form von Entfremdung der Arbeit. Wenn Marx auch in späteren Schriften zwischen dem durch Arbeitszeit zu verkürzenden Reich der Notwendigkeit, in dem die Freiheit nur darin bestehen kann, den „Stoffwechsel mit der Natur rationell (zu) regeln“[12], und dem Reich der Freiheit, das jenseits der Arbeit die menschliche „Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“[13], unterscheidet und somit die Utopie des freien Wechselns innerhalb der menschlichen Tätigkeiten relativiert, so bleibt nach seinem Verständnis die Arbeit „nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis.“[14]

Evangelische Sozialethik erinnert an biblisches Verständnis der Arbeit

Auch in biblischer Sicht gehört Arbeit wesentlich zum Menschsein. Allerdings konstituiert Arbeit nicht das Menschsein des Menschen, es ist auch nicht sein erstes Lebensbedürfnis. Der Mensch verdankt sich wesentlich der Güte und der Anrede Gottes. Arbeit benötigt in dieser Perspektive Begrenzungen, wie sie sichtbar werden in der Ruhe des Sabbats beziehungsweise des Sonntags. Arbeit bedeutet positiv Teilhabe an der dem Menschen von Gott gegebenen, gemeinsamen Weltverantwortung, sie steht aber immer und unaufhebbar in der Spannung von „Fluch“ und „Segen“, von entfremdeten und gelungenen Erfahrungen.

Indem die evangelische Sozialethik an das biblische Verständnis von Arbeit erinnert, das im Sinn der Exodustradition eine Kritik an einer totalitären und versklavenden Arbeitswelt impliziert, beteiligt sie sich engagiert an der Verwirklichung eines jeweils möglichen Höchstmaßes an humanen Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsbedingungen müssen stets gestaltend verbessert, die Technik in eine Kultur der Beteiligung eingebettet werden.

Marx hat die Entwicklungspotenziale des Kapitalismus unterschätzt

Die Entwicklungen der Arbeitswelt haben – anders als von Marx vorhergesehen – nicht generell zu mehr Verelendung und Arbeitsqual geführt. Vielmehr sind – vornehmlich in den Ländern des Nordens – die Erträge der Produktion sowie die Möglichkeiten der Selbstbestimmung in der Arbeitswelt deutlich erhöht worden, eine Mehrzahl von Menschen bewertet die Bedingungen ihrer Arbeit in Deutschland gegenwärtig positiv.

Offensichtlich hat Marx die Entwicklungspotenziale und die Spielräume innerhalb der kapitalistischen Ordnung unterschätzt, die vor allem durch die Gewerkschaften erkämpft werden können. Die gegenwärtig drängendste Herausforderung, von Marx immerhin geahnt, besteht darin, die ökologischen Voraussetzungen der menschlichen Arbeit und des Wirtschaftens generell zu beachten. Nur nachhaltige Formen der Arbeit können sich als zukunftsfähig erweisen.

Prof. Dr. theol. Traugott Jähnichen ist Dozent für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und stellvertretender Vorsitzender der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Fußnoten

[1] Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, Frankfurt 1970, § 197, 352, wo Hegel in einem Zusatz Barbaren als in einer stumpfen Faulheit vor sich hinbrütende Menschen ohne praktische und theoretische Bildung beschreibt.

[2] Hegel, Grundlinien, § 198, 352.

[3] Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: MEW, Ergänzungsband 1, Berlin 1968, 574.

[4] Marx, Manuskripte,  546.

[5] Marx, Manuskripte, 544.

[6] K. Marx/F. Engels, Das kommunistische Manifest, in: MEW 4, S. 468.

[7] K. Marx/F. Engels, Manifest, in: MEW 4, S. 469.

[8] Vgl. Marx, Manuskripte, 515 ff: Die Entfremdung der Arbeit im Kapitalismus meint: »Das Verhältnis der Arbeit zum Produkt der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand […] Das Verhältnis der Arbeit zum Akt der Produktion innerhalb der Arbeit […] [d.h.] das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen […] [die Entfremdung des] Gattungswesen(s) des Menschen […] zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz […] die Entfremdung des Menschen von dem Menschen.«

[9] Karl Marx, Deutsche Ideologie, Berlin/DDR 1953, S. 200.

[10] K. Marx/F. Engels, Manifest, in: MEW 4, S. 481, S. 482.

[11] K. Marx/F. Engels, Manifest, in: MEW 4, S. 482.

[12] K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., in: MEW 25, S. 828.

[13] Ebd.

[14] K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW, Band 19, Berlin 1962, S. 21.