„Heldengeschichten, Applaus und Stollen ändern nichts‟

Professorin Martina Hasseler fordert „den großen Wurf‟ im Pflegesystem

Das Pflegesystem in Deutschland sieht Prof. Dr. Martina Hasseler in einem schlechten Zustand, der seit 20 Jahren an Dramatik zunimmt. „Wenn Angehörige gepflegt werden müssen, geht man davon aus, dass irgendeine Frau es macht und ihre Selbstbestimmung aufgibt‟, beschreibt die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin die Situation. Befördert werde dies durch den Charakter der Pflegeversicherung und eine Denkweise aus den 50er Jahren. Hasseler: „Dass gute professionelle Pflege einen wirtschaftlichen Mehrwert hat, wird nicht gesehen.‟

Regelungen nur für rudimentäre Pflege

Die Pflegeversicherung darf man nach Ansicht der Wissenschaftlerin nicht mit einer Stärkung der Pflegeberufe verwechseln. Es handele ich um eine „Pflegebedürftigkeits-Anerkennungsversicherung‟, die Pflege durch die Angehörigen befördern wolle. Die professionelle Pflegearbeit sei dabei nicht im Blick gewesen. Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) regelten nur das Nötigste für eine rudimentäre Fachpflege in der häuslichen Pflege. Leistungsrechte für die Pflegeberufe gebe es aber nicht.

Durch das Gesetz zur Reform der Pflegeberufe wurde 2020 eine berufliche Ausbildung mit dem Abschluss Pflegefachfrau und Pflegefachmann und möglicher anschließender Spezialisierung eingeführt. Ein Pflegestudium ist jetzt in Ergänzung zur beruflichen Pflegeausbildung ein weiterer Qualifizierungsweg. Hasseler spricht von einem „merkwürdigen Kompromiss‟, bei einem Gesetz, das eigentlich 20 Jahre zu spät kommt. Die akademische Ausbildung sei in dieser Form wenig anziehend, weil kein Ausbildungsgehalt gezahlt wird, Kooperationspartner gefunden werden müssen und die berufliche Ausbildung die primäre ist.

Viele Pflegekräfte sind frustriert

Die Arbeit der Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen bleibt weiter unattraktiv. Beim Pflegepersonal gebe es ein hohes Durchschnittsalter und es kämen nicht genügend junge Leute nach, schildert die Pflegewissenschaftlerin. Jetzt werbe Deutschland weltweit Fachkräfte an. „Viele Pflegekräfte aus Indien oder den Philippinen bleiben aber nicht lange, denn sie können ihre Kompetenzen nicht einbringen‟, so Hasseler. Sie gingen dann in andere europäische Länder.

„Was soll ich in diesem Beruf, wenn ich meine erlernten Kompetenzen und Fähigkeiten nicht anwenden kann?‟, fragt sie. Deshalb seien viele Pflegekräfte im Job frustriert. Die Pflegebedingungen erzeugten hohe Burnout-Raten und Arbeitsabwesenheitstage. Dabei sei künftig mehr Pflege nötig, zum Beispiel durch längere Lebenswartung und Demenzerkrankungen und durch Bedarfe in Krankenhäusern, Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Prävention. Aktuell gilt für sie: „In einem Pflegeheim möchten wir alle nicht sein.‟ Die Situation sei deutlich schlechter als zu Beginn der 90er Jahre. Bufdis, Praktikantinnen und Praktikanten müssten professionelle Pflege ersetzen.

Corona-Pandemie hat die Überlastung gesteigert

Eine Ursache für die Misere entdeckt Hasseler im Grundsystem der Selbstverwaltung. Kranken- und Pflegekassen, Ärzte und Krankenhäuser, Arbeitgeber und Wohlfahrtsverbände sind Teil davon. Die Pflegekräfte sind nicht berücksichtigt. Pflege wird nach den Erfahrungen der Dozentin im Gesundheitssystem immer noch mit dem Dienen, dem klassischen Bild der Diakonisse und einem veralteten Frauenbild verbunden. Um das Pflegepersonal als Fachkräfte gehe es aber nicht. „Die Imagekampagnen für den Pflegeberuf sind geradezu lächerlich‟ sagt sie. Die gesellschaftlichen Mehrkosten durch schlechte Pflege würden nicht gesehen; für den Mehrwert professioneller Pflege gebe es kein Bewusstsein.

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Überlastung noch einmal gesteigert. Positiv entwickelt hat sich dadurch für Hasseler nichts: „Heldengeschichten, Applaus und Stollen ändern nichts. Viele fühlen sich nicht ernst genommen.‟ Die Politik verteile nach Vorstellungen der Hierarchie innerhalb der Pflegeberufe Boni, die an alle Pflegeberufe gehen sollten. Politikerinnen und Politiker sähen nicht, dass es keine Verpflichtung gibt, im Beruf zu bleiben. Nicht wenige verlassen die Pflegepraxis und kommen nicht zurück.

International eine Professionalisierung der Pflege

Andere Länder haben es durchaus besser gemacht. „Vor 50 bis 20 Jahren begann international eine Professionalisierung der Pflege‟, so Hasseler. Die Pflege sei in die Gesundheitsversorgung integriert worden. Der Personalschlüssel in der Pflege sei durchweg besser als in Deutschland, die Wertigkeit höher. Auch in Österreich und in der Schweiz habe eine professionelle Entwicklung der Pflegeberufe eingesetzt. Die Schweiz unterstütze jetzt mit einer Pflegeinitiative ausdrücklich die professionelle und fachliche Pflege.

„In Deutschland können wir nur etwas erreichen, wenn die wirtschaftlichen Kosten der schlechten Pflege wahrgenommen werden‟, sagt Hasseler. Wenn Angehörige keine Pflege leisten müssten, habe das auch einen wirtschaftlichen Mehrwert. Auf der anderen Seite müsse man sich fragen: „Was brauchen wir im Krankenhaus, damit die Leute gesund nach Hause kommen?‟ Die Fakten dazu seien eindeutig. Das hätten wissenschaftliche Studien gezeigt.

Modellprojekte ohne nachhaltige Umsetzung

In der deutschen Politik erkennt sie ein großes Versagen. Es gebe viele Modellprojekte, deren nachhaltige Umsetzung dann aber an der Finanzierung scheiterten. Hasseler: „Wir brauchen für das Pflegesystem den großen Wurf, den aber auch der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien nicht zeigt.‟ Sie fordert ein eigenes Leistungsrecht für die Pflegeberufe bzw. für deren professionelle Leistungen in allen Settings und Sektoren des Gesundheitssystems. Die Pflegeberufe sollten in die Entscheidungen des Gesundheitssystems integriert werden und Verantwortung für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Berufsgruppe erhalten.

Zur Person

Prof. Dr. habil. Martina Hasseler ist Professorin an der Fakultät Gesundheitswesen der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften und Privatdozentin an der Fakultät I der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit Schwerpunkten in Pflege-, Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften.

  • Ralf Thomas Müller

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