Gewerkschaftliche „Streitschrift“ gegen „kirchlichen Sonderweg“

Arbeitsrecht

Eine „Streitschrift zum kirchlichen Sonderweg im Arbeitsrecht“ hat der Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi herausgegeben. Anlass sind 100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge in Deutschland.

Die „Streitschrift“ mit dem Schwerpunkt Tarifverträge stellt das Selbstverständnis des kirchlichen Arbeitsrechts grundsätzlich infrage. „Man kann den Kirchen nur raten, ihre längst überholte Sonderrolle endlich aus freien Stücken aufzugeben, bevor es die Gerichte scheibchenweise tun“, erklärt das Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler in der Broschüre.

Kirchen hätten zwar ein grundgesetzlich verankertes Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht, aber in den Schranken der für alle geltenden Gesetze. Insbesondere das von den Kirchen reklamierte „Selbstbestimmungsrecht“ beim Arbeitsrecht gebe es nicht. Die „Streitschrift“ stellt sich damit auch gegen entsprechende Aussagen von Gerichten und beruft sich darauf, dass das Grundgesetz dies nicht explizit vorsehe.

Gegen den Begriff der „Dienstgemeinschaft“

Den in der Kirche und der Diakonie verwendeten Begriff der „Dienstgemeinschaft“ halten die Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschafter für ausgesprochen problematisch. Erstens gebe es darüber bis heute keinen theologischen Konsens. Zweitens beriefen sich Gerichte darauf und akzeptierten damit eine kirchliche Nebenrechtsordnung. Als deren Folge würden wesentliche Beschäftigtenrechte untergeordnet.

Zum Dritten wird auf die historische Belastung von „Dienstgemeinschaft“ verwiesen. Das Nazi-Regime habe den Begriff gemäß ihrem „Führer-/Gefolgschaftsprinzip“ mit dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ 1934 eingeführt. Unternehmer seien aus Sicht der Nationalsozialisten „naturgegebene Führer“. Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie habe das Regime beseitigt.

Das Ziel sei die Ausschaltung jeder unabhängigen Interessenvertretung der Beschäftigten auf gewerkschaftlicher, politischer und kultureller Ebene gewesen. Nach Darstellung in der Publikation hätten die Kirchen mit der Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes sowie des Grundgesetzes 1949 den Begriff der „Dienstgemeinschaft“ aufgeben und sich von seinem belasteten Ursprung und seiner Bedeutung lösen können.

Wirtschaftlicher Druck im Gesundheits- und Sozialwesen

Einen echten „Dritten Weg“ gibt es nach Ansicht der Autorinnen und Autoren nicht. „Es wirkt absurd: Die Kirchen schufen ein eigenes Arbeitsrecht, um dann die Regelungen abzuschreiben, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt wurden“ heißt es in der Broschüre. Allerdings geschehe dies um den Preis, dass sie ihren Beschäftigten Grundrechte vorenthielten, zum Beispiel das Streikrecht.

„Doch seit Mitte der 1990er Jahre politisch der Weg in die ,Vermarktlichung‘ des Gesundheits- und Sozialwesens geebnet wurde, gerieten die Wohlfahrtsunternehmen zunehmend unter wirtschaftlichen Druck renditegetriebener Anbieter“, so die „Streitschrift“-Analyse. In der Folge sahen sich laut Gewerkschaft die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen mit Kürzungsplänen der Arbeitgeber konfrontiert. Seit dem Einzug des wirtschaftlichen Wettbewerbs im Gesundheits- und Sozialwesen werde immer offensichtlicher, dass es auch bei kirchlichen Einrichtungen unterschiedliche Interessen von Arbeitgebern und Belegschaften gibt.

Die Reihe der Streitschriften soll fortgesetzt werden. Weitere Ausgaben sollen sich mit der betrieblichen Mitbestimmung in kirchlichen Einrichtungen und der Zukunft des kirchlichen Arbeitsrechts beschäftigen. Die Herausgeber weisen darauf hin, dass die Veröffentlichungen keine offiziellen Beschlüsse von Verdi wiedergeben.