Der Care Gap beginnt im Kinderzimmer

Neue Wege in eine gleichberechtigte Gesellschaft


Die ungleiche Verteilung der Care- und Fürsorgearbeiten hat für Almut Schnerring und Sascha Verlan ein- und dieselbe Ursache: Geschlechterrollenbilder und die Aufgabenverteilung in „typisch weiblich‟ und „typisch männlich‟. Deshalb plädieren sie dafür, schon den Kindern etwas anderes vorzuleben. Dabei können ihrer Ansicht nach auch die Männer gewinnen.

von Almut Schnerring und Sascha Verlan

Stellen Sie sich fünf Zimmer vor, irgendwo, ganz in ihrer Nähe, vielleicht in dem Haus, in dem Sie selbst leben oder gerade arbeiten:

  • Im ersten Zimmer sitzt jemand am Bett einer kranken Person und sieht nach, ob das Fieber gestiegen ist.
  • Im zweiten kocht jemand das Mittagessen für mehrere Menschen.
  • Im dritten Zimmer sortiert jemand schmutzige Wäsche, der Staubsauger steht schon bereit.
  • Im vierten zieht jemand einem Kind die Regenhose an, merkt, dass sie eng geworden ist, und notiert sich in Gedanken die nächste Größe, um bald eine neue zu besorgen.
  • Und im fünften Zimmer liest jemand einer blinden Person aus der Zeitung vor.

Das Risiko der Altersarmut

In allen fünf Zimmern sind Menschen, die Care-Arbeit leisten. Statistisch sind vier der fünf Personen Frauen, zwei von ihnen bekommen Geld für das, was sie tun. Für alle fünf birgt diese Art der Tätigkeit das Risiko, später einmal in Altersarmut leben zu müssen. Viele halten das sogar für gerechtfertigt, weil in diesen fünf Zimmern ja auch nicht „richtig“ gearbeitet wird. Der Begriff „Arbeit“ ist inzwischen derart verkürzt auf Erwerbsarbeit, dass alles andere dagegen wertlos erscheint: Was arbeiten sie gerade? – Och, nichts, ich bin in Elternzeit … ich bin nur Hausfrau … oder Mutter … oder ich pflege gerade meinen Schwiegervater …

Die „80-40-Katastrophe“ in der Partnerschaft

Stellen Sie sich nun eine Gruppe von Kindern in einer Kita vor oder das Spielwarenangebot in einem Kaufhaus: Wer arbeitet in der Spielküche? Wer kümmert sich um die Puppe, und wer kommt auf den entsprechenden Verpackungen, in Werbespots und Katalogen gar nicht vor? Wer spielt putzen, wer deckt den Tisch, wer räumt ab, wer kümmert sich um kleinere Kinder? Mehr noch als in der Erwachsenenwelt sind die Spielwelten von Kindern klischeehaft getrennt. Und außerhalb des Spiels in Filmen, Büchern und Computerspielen, in der Werbung? Auch hier herrscht eine derart klischeehafte Aufgabenverteilung, dass man sich nicht wundern muss, wie es zu dieser „80-40-Katastrophe“ kommt, von der die Shell-Studie einst sprach, dass sich zwar 80 Prozent der jungen Frauen eine Beziehung wünschen, in der Familienarbeit und Haushalt gleichberechtigt aufgeteilt werden, aber nur 40 Prozent der jungen Männer diesen Wunsch teilen. Auch wenn sich die Zahlen leicht verändert haben, auch der aktuelle Väterreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend besagt, dass sich – nur oder immerhin? – 48 Prozent der Väter eine partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit wünschen.

Was Erwachsene ihren Kindern vorleben

Ob privat oder beruflich, diese so ungleiche Verteilung der Care- und Fürsorgearbeiten hat ein- und dieselbe Ursache: Geschlechterrollenbilder und die Aufgabenverteilung in „typisch weiblich“ (putzen, kochen, sich kümmern) und „typisch männlich“ (tragen, werken, rechnen). Auch wenn die Mehrheit glaubt, wir seien da längst weiter, Gespräche mit Kindern im Vorschulalter machen ziemlich deutlich, welche Zuordnungen schon Vierjährige von den Erwachsenen gelernt haben. Und hier liegt ein zentraler Ansatzpunkt für eine Lösung beider Missstände: die Art und Weise, wie wir mit Kindern umgehen, was wir ihnen vorleben, was wir von ihnen erwarten, und was eben nicht. Der Gender Care Gap beginnt im Kinderzimmer: Verantwortung im Haushalt, Körperpflege, die Betreuung jüngerer Geschwister, Einkaufen, Haustiere … hier wird Mädchen von Anfang an deutlich mehr abverlangt als Jungen. Und beim Familienfest in großer Runde wird für alle, die es sehen wollen, deutlich, wer für die Küche verantwortlich ist und wer fürs Diskutieren am abgegessenen Tisch.

Schon Mädchen arbeiten mehr im Haushalt

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) hat in ihrem Bericht „Harnessing the Power of Data for Girls“ einmal vorgerechnet: Mädchen im Alter von 5 bis 14 Jahren arbeiten weltweit 160 Millionen Stunden mehr im Haushalt als ihre Brüder, 160 Millionen Stunden, die Jungen mehr zur Verfügung haben für die eigene Ausbildung oder Freizeit. Und mit zunehmendem Alter steigt die zeitliche und emotionale Belastung der Mädchen weiter, vergrößert sich der Care Gap zwischen Frauen und Männern, auch in Deutschland und Europa. Was für ein ungeheuerlicher Zeitgewinn, ein Mehr an Freizeit, das Privileg, sich um die Dinge im Leben kümmern zu können, die einem helfen, hinter den Töpfen vor- und im Leben voranzukommen: (lesen) lernen, studieren, Kontakte knüpfen, einen Beruf finden, soziale Teilhabe genießen, mitgestalten.

Gravierende Folgen auch für Männer

Allerdings, und auch das gehört zum Gender Care Gap: Jungen lernen nicht nur weniger, sich um andere zu kümmern, die starken Helden verlernen auch, auf ihren eigenen Körper zu achten, Traurigkeit und Schmerz zuzulassen und nicht in Aggression und Wut umzumünzen, eine der Hauptursachen für die höhere Risikobereitschaft, verspätete Besuche bei der Ärztin, höheren Alkohol- und Drogenkonsum, höhere Suizidrate … kurzum, dass Männer in Deutschland im Durchschnitt fünf Jahre kürzer leben als Frauen. Der Gender Care Gap hat also insbesondere für Männer gravierende Folgen, so dass es gerade in ihrem Interesse liegen sollte, an dieser sozialen Schieflage etwas zu ändern: finanzielle Gerechtigkeit und die Anerkennung der Care-Arbeit von Frauen, damit diese nicht wie so oft in die Altersarmut führt, dafür mehr Lebenszeit für Männer, wenn das mal kein ausgewogenes Angebot ist.

Zu den Personen

Almut Schnerring und Sascha Verlan sind Autor*innen von „Equal Care. Über Fürsorge und Gesellschaft“ (Berlin 2020). 2016 haben sie den „Equal Care Day“ initiiert.

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